Freitag, 14. November 2008
Das Denunziantentum
Der anthroposophische Ansatz in Bezug auf das Denunziantentum der Postmoderne, scheint mir bisweilen doch noch der Treffendste zu sein .

Daher erlaube auch ich mir einmal die C&P-Methode anzuwenden.
Denn bemerkenswerte Ausführungen - die mal ganz anders als die üblichen einseitigen Propagandaphrasen, aus einer unabhängigen, freidenkerischen Position heraus entstehen - verdienen es immer, wiederholt zu werden.

Im Folgenden also ein Text aus anthroposophy.com :


Der Rassismus stellt ohne Zweifel eine der großen Katastrophen der neueren Geschichte dar. Als Rassenantisemitismus mündete er im ultimativen Verbrechen des nationalsozialistischen Genozids. Die moralische Verwerflichkeit dieses Verbrechens und seine geschichtliche Einzigartigkeit kann von keinem vernünftigen Menschen bestritten werden.

So wie die andere reduktionistische Ideologie des 19. Jahrhunderts, die Ideologie des Klassenkampfs, führte die Ideologie des Rassenkampfs zu einer Entfesselung von Gewalt und einer Dehumanisierung in nie dagewesenem Ausmaß. Der Rassismus identifizierte Individuen mit einem biologischen Typus und reduzierte sie auf diesen. Nicht durch ihr Tun, sondern durch ihr Sein sollten sie bestimmt sein. Der angeblichen Determination durch den Rassentypus konnte niemand entrinnen. Der Kommunismus in seinen verschiedenen Formen identifizierte die Individuen mit ihrer Klasse und hielt die angebliche Determination durch diese Gruppenzugehörigkeit für ebenso unentrinnbar. Die totalitären Großideologien führten bei den Versuchen ihrer gesellschaftlichen, politischen Umsetzung nicht nur zu zwei Weltkriegen, sondern auch zu binnenstaatlichen Katastrophen nie dagewesenen Ausmaßes.

Im Horizont der biologististischen und soziologistischen Programme blieb kein Raum für das Individuum, kein Raum für die Andersartigkeit, kein Raum für Freiheit. Das war der Grund, warum sowohl in kommunistischen Staaten als auch im nationalsozialistischen Regime die Anthroposophie verboten war. Die Anthroposophie widerstreitet der Reduktion des Menschen auf biologische Merkmalsgefüge ebenso, wie seiner Reduktion auf gesellschaftlich definierte Kategorien. Sie sieht das Wesen des Menschen in seiner einzigartigen, unaustauschbaren geistigen Individualität, die sie jedem Angehörigen der Gattung zuspricht, ohne Ausnahme und Abstriche. Sie leugnet weder das Vorhandensein eine biologischen Natur noch die Existenz gesellschaftlicher Verhältnisse, in die das einzelne Individuum eingebettet ist. Sie bestreitet jedoch die Reduzierbarkeit des Menschen auf sie oder dessen Ableitbarkeit aus ihnen. Der einzelne Mensch ist aufgerufen, seinen biologischen und seinen gesellschaftlichen Leib (die Gesamtheit der naturhaften und sozialen Gegebenheiten) zu Ausdrucksmitteln seiner Freiheit zu erheben.

Die Anthroposophie will den Menschen zu sich selbst befreien, indem sie auf den unreduzierbaren Quell einer schöpferischen Kreativität verweist, den jeder in sich trägt. Der Mensch ist nicht mit einem Bild identifizierbar, das andere sich von ihm machen, er ist immer mehr als das. Was er ist, kann er letztlich immer nur durch sich selbst explizieren. Diese Selbstexplikation setzt einen Raum der gesellschaftlichen Freiheit voraus, in dem diese zugelassen wird. Für die Anthroposophie ist unvorstellbar, einem Menschen das Menschsein abzusprechen, nur weil er nicht einer Vorstellung oder einem Bild des Menschen entspricht, das sich jemand anderes von ihm macht. Das bedingungslose Plädoyer für Freiheit und Selbstbestimmung, das sich aus der Einsicht ergibt, dass jeder Mensch einen göttlichen Wesens- und Würdekern in sich trägt, lässt prinzipiell keine Verdächtigungen zu. Was der andere ist oder was er will, kann nur er selbst sagen.

Anders die Inquisitoren, die Verdächtiger und Jäger nach ideologischen Abweichlern. Sie unterstellen dem anderen Ansichten, die er nicht hat, sie wollen nicht auf die sich selbst explizierende Individualität hören, sie sind nur daran interessiert, andere als Projektionsfläche für die Rituale ihrer Selbstvergewisserung zu missbrauchen. Vorstellung ersetzt Wahrnehmung, Behauptung das Verstehen, Verurteilung die Würdigung des Fremden, des Einzigartigen. Die rassistoiden Antirassisten, die faschistoiden Antifaschisten, die sektiererischen Sektenjäger, sie alle missbrauchen andere Menschen lediglich als Objekte ihrer ideologischen Selbstrechtfertigung. Sie wollen das »gute« Menschsein monopolisieren, indem sie sich zu dessen allein legitimen Verteidigern erklären, sie beanspruchen eine Definitionsmacht über die andere Individualität, die totalitär ist. Sie sind in ihrer Neigung zur Diffamierung, zur Ausgrenzung, zur Stigmatisierung und Verfemung Andersdenkender nicht weniger militant als das von ihnen imaginierte Double. Sie reden in einem fort, aber wer hört ihnen zu, ausser sie selbst?

Kann man mit ihnen reden? Kann man sie eines Besseren belehren? Kann man hoffen, sie auf das hinzuweisen, was zu sehen ist, was zu hören ist, wenn man nur sehen oder hören will? Ich fürchte nicht. Sie haben keinerlei Interesse am wirklichen Sehen und Hören. Für jeden aber, der sehen und hören, der verstehen will, denunziert sich der Denunziant selbst. Seine eifernde Anpreisung vorgeblicher Wahrheiten, seine repetitive Artikulation, seine monothematische Deklamation klären uns über ihn auf. Die Wahrheit ist jedem zugänglich, der sie wirklich finden will. Voraussetzung ist, dass wir unser Auge den Menschen zuwenden, dass wir einen emotionslosen Blick, ein unverstelltes Hören üben. Das Wunder der Begegnung ereignet sich nicht im Getöse ideologischer Beschuldigungen, Verdächtigungen und Unterstellungen, sondern in der Stille.

Lorenzo Ravagli

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